→ Kritik
Haut
Musik für elf hölzerne Fensterbänke im Lichthof des Professorenhauses zu Lingen

Auftrag des Kunstvereins Lingen

ca. 18 Min.
komponiert 1996, Uraufführung 1997
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→ Video Aufnahme 1997 Lingen, Anthos Schlagzeug Ensemble.

Einführung


Die Schlagzeuger spielen in elf verschiedenen Tempi mit unkoordinierten Metronomen. Die Textur der elf Tempi bildet eine Methode regelbasierter Grobmodellierung mit Hilfe unscharfer Information, wie sie in der neueren Informatik mit der sogenannten „Fuzzy-Theorie“, der Theorie unscharfer Gleichungssysteme und mehrwertiger Logik entwickelt wurde. Mit dieser Methode wird darauf abgezielt, musikalische Themen nicht als fixe Gestalten, sondern als vieldeutige Verwandlungen zu begreifen und damit die spezifische Räumlichkeit und die Instrumente, die selbst Teil des Raumes sind, zum eigentlichen Inhalt der Komposition zu machen.
Die spezifische Situation des Lichthofes besteht in einem Wechselspiel von „Innen” und „Außen”. Die Schlagzeuger blicken und spielen durch die Fenster nach außen, ein Außen, das als Auditorium zugleich einen Innenraum bildet. Die räumliche Interdependenz von Innen und Außen wird in der Komposition am Ort der Abgrenzung des Innen vom Außen kristallisiert; im konkreten Raum: die Fenster, also die Instrumente; oder anatomisch: die Haut. Die Komposition faßt das Ineinander-Übergehen von Innen nach Außen und ihre wechselseitige Beziehung als gestische Bewegung, aus deren Grundrichtungen - von außen nach innen und von innen nach außen - zwei verschiedene motivisch-musikalische Themata entwachsen.
Das erste Thema ist die Verwandlung eines akkordähnlichen Klangaggregats, das hier für die „geschlossene”, kollektive Äußerung des Ensembles steht, in eine diastatische Folge zunehmender klanglicher Differenzierung, deren melodiöse Innenbalance in den Vordergrund tritt. Die unscharfe Tempo-Textur sorgt dafür, daß die Richtung dieser Verwandlung wechselt und man eigentlich nicht definieren kann, welcher der beiden Pole der Ausgangspunkt, welcher der Zielpunkt ist. Das zweite Thema ist die Verwandlung einer innerlich bewegten Klangfläche in eine äußerliche, räumliche Bewegung. Und wie die Themen selbst aus Verwandlungen bestehen, wandelt sich im Laufe des Stückes ein Thema in das andere, das heißt, die gestische Richtung wird von jeder Eindeutigkeit befreit, Innen und Außen konfundieren, Äußerung und Perzeption korrelieren, so daß sie schließlich nicht mehr voneinander trennbar sind.
Die Suche nach einer solchen Konstellation entspringt der grundlegenden Erfahrung der akustischen Orientierung im Raum. Distante Klangorte vermessen einen Raum, die Fragen der Instrumente und die Antworten des Raumes fließen zu einer komplexen Situation zusammen, in der Antworten von Fragen und Fragen von Antworten abhängen. Dem Hörer wird mit der Vermessung eine Distanz verschafft, die erst räumliche Orientierung erlaubt, indem sie ihm einen eigenen Ort im Raum zutraut. Es mag sein, daß wir uns immerzu in solchen komplexen Situationen bewegen - nicht nur akustisch. Meine Musik möchte dem Lichthof akustische Fragen stellen, ihn neu vermessen, um ihn damit hörbar erneut wahrzunehmen. Dem einzelnen Hörer bleibt es überlassen, die akustische Erfahrung auf andere Lebensbereiche zu übertragen.


Aufführungen


Uraufführung:
7. Dezember 1997: Professorenhaus Lingen;
→ Anthos Schlagzeug Ensemble
der Hochschule für Musik und Theater, Hannover:
→ Jan-Hendrik Behnken,
→ Matthias Breitlow,
→ Thorsten Harnitz,
→ Ulrich Katzenberger,
→ Daniel Keding,
→ Norbert Krämer,
→ Thomas Laukel,
→ Almut Lustig,
→ Christoph Nünchert,
→ Anke Rienau und
→ Cymin Samawatie - Schlagzeug;
→ Andreas Boettger - Einstud.





Kritik


Dokumentationstext in der Schrift:
12 Installationen + 1 Komposition = 13, hrsg. vom Kunstverein Lingen, Buxus Verlag, Lingen 1998

FRIEDEMANN SCHMIDT-MECHAU HAUT
von → Heiner Schepers

Das Atrium mit seiner besonderen Akustik zum Abschluß der Installationsreihe auch noch als Instrument erlebbar zu machen, war die Grundidee für die Vergabe einer Auftragskomposition für die elf Fensterbänke in der ersten Etage des Professorenhauses. Friedemann Schmidt-Mechau hat dieses Stück für 11 Schlagzeuger geschrieben und ihm den Titel „Haut” (1996) gegeben. Der Titel spielt auf die vermittelnde Funktion der Fenster zwischen Innen und Außen an. Andreas Boettger sorgte mit Anthos, dem Schlagzeug-Ensemble der Hochschule für Musik und Theater, Hannover, für die Realisierung. (...)
Bei einem je eigenen Tempo mußten sich die 11 Musiker für ihren Part auf ihr jeweiliges Metronom konzentrieren, und nur bei gemeinsamen Einsätzen bedurfte es eines Blickkontaktes oder Zeichens, denn für einen Dirigenten gab es im Luftraum der ersten Etage keinen Platz. Die Zuschauer hörten das Schlagen unterschiedlichster Schlegel und der Hände auf Fensterbänken, -füllungen und -glas; sie hörten die Töne den Raum umkreisen, ein Sirren der schwingenden, vom Komponisten gelieferten Klang-Hölzer, stakkatoartiges Klopfen und ein prasselnd abbrennendes Feuerwerk rasanter Tempi, aber auch Töne extremer Leichtigkeit und langsame Rhythmen, die die Zuschauer zu äußerster Konzentration zwangen. Sie, die im Inneren des Atriums wie im Bauch eines Instumentes standen, das die Musiker von außen bespielten, konnten sich im Raum bewegen und sehen, wie dieser zum Klingen gebracht wurde. Sie erlebten ein Konzert, das, so ganz atypisch in einer Zeit grenzenloser Reproduzierbarkeit aller Ereignisse, 18 Minuten lang singulär und so nicht zu wiederholen, stattgefunden hat. Der Raum als solcher und als Erlebnisort war Ausgangspunkt eines sich anschließenden Wandelkonzertes (...)


Lingener Tageblatt, 13. Dez.1997, zum Konzert am 7. Dez. 1997

Auf Holz, Blech, Pappe und Tamtam ...
„Wandelkonzert“ mit Uraufführung - Anthos-Ensemble aus Hannover zu Gast
von
→ Peter Löning

Was macht einen Gegenstand zum Musikinstrument? Natürlich die Musik. Einen vortrefflichen Beweis für diese Behauptung trat der Oldenburger Komponist Friedemann Schmidt-Mechau mit seiner Komposition „Haut” für elf hölzerne Fensterbänke an; geschrieben und uraufgeführt im Auftrag des Lingener Kunstvereins.
Das zugedachte Instrumentarium gehört zu jenen Fenstern, die den Lichthof des „Professorenhauses” am Universitätsplatz säumen. Der Titel spielt auf die vermittelnd teilende Funktion dieser Fenster von innen und außen an. Es spielte das Anthos-Schlagzeug-Ensemble, elf Studenten der Hannoveraner Musikhochschule, aus den Fenstern heraus, allerdings doch in das Atrium hinein, in dem eine gespannte Hörerschaft dieses einmalige Ereignis miterleben konnte. Dabei konnte man nicht wenig staunen über die Klangcharakteristik der einzelnen Bänke sowie über ein ungeahntes Raumerlebnis. Kreisende Bewegungen wirkten bisweilen schwindelerregend, heftiges Prasseln wich beinahe unhörbaren Passagen. Zeitweise fand man sich inmitten eines abbrennenden Feuerwerks. Dabei übertrug sich die angespannte Konzentration der in verschiedenen Tempi spielenden Musiker direkt auf die Hörer.
Mit diesem aufregenden und bis zuletzt spannenden Werk begann ein ausgedehntes, aber kurzweiliges „Wandelkonzert” (...)